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Interview mit Univ.- Prof. Oliver Rathkolb

Oliver Rathkolb ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien und Vorsitzender des internationalen wissenschaftlichen Beirates des Hauses der Geschichte Österreichs. Im Mai 2015 zeigt die Österreichische Nationalbibliothek u.a. die Ausstellung „1945. Zurück in die Zukunft“, deren wissenschaftlicher Leiter er ist.

Im April 2015 befragten wir ihn zum Thema Staatsvertrag.

Wie würden Sie einem Kind die Bedeutung des Staatsvertrages in einem Satz erklären?

Der Staatsvertrag vom 15.5.1955 ist das zentrale, internationale Dokument, um die Verwaltung durch die alliierten Truppen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beenden.

Welche Auswirkungen hat der Staatsvertrag für einen Jugendlichen im Jahr 2015?

Der Staatsvertrag und vor allem das Verfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs vom 26.10.1955 sind nach wie vor in Geltung. Deshalb tritt Österreich bei militärischen Konflikten, aber auch internationalen Krisen manchmal als Vermittler auf.

Wo stünde Österreich heute, wenn es keinen Staatsvertrag hätte?

Wenn es keinen Staatsvertrag gegeben hätte, wäre Österreich kein wirklich souveräner Staat, sondern würde nach wie vor unter der Verwaltung der Alliierten stehen.

Glauben Sie, dass Österreich ein geteiltes Land wäre, wenn es keinen Staatsvertrag hätte?

Nein. Der einzige Moment, wo die Gefahr einer Teilung bestanden hat, war im Jahr 1945. Damals gab es nur eine Regierung in Wien, Niederösterreich und Burgenland, aber nicht in Westösterreich. Mit der Einbindung der westlichen Bundesländer in diese Regierung und den ersten Wahlen im November 1945 gab es diese Teilungsgefahr nicht mehr, sie gehört also zu den „Mythen“.

Wird der Staatsvertrag heute von HistorikerInnen anders beurteilt als im Jahre 1955?

Der Staatsvertrag wird heute anders beurteilt. HistorikerInnen im Jahre 1955 haben Österreich primär als Opfer des Nationalsozialismus gesehen und auch als Opfer im Zweiten Weltkrieg. Heute sieht man deutlich auch die aktive Beteiligung von ÖsterreicherInnen am Zweiten Weltkrieg und im Holocaust sehr kritisch, das heißt ÖsterreicherInnen waren sowohl Opfer, als auch TäterInnen und ZuschauerInnen.

Der Staatsvertrag hat diese lange Besatzung der Alliierten beendet. Die Jahre 1945–1955 wurden aus der Sicht vieler HistorikerInnen und PolitikerInnen aus dem Jahre 1955 nur als Fortsetzung des Anschlusses an das nationalsozialistische Deutschland gesehen, nur eben mit anderen Mächtigen und Herrschern.

Der Staatsvertrag war sozusagen der Schlussstein für die lange Opfergeschichte Österreichs nach 1938 – das wird heute so nicht mehr gesehen.

Was sind die bekanntesten „G’schichtln“ und Mythen rund um den Staatsvertrag?

Ein absoluter Mythos ist, dass österreichische Politiker wie Figl und andere beim Heurigen und „mit der österreichischen Gemütlichkeit“ den Staatsvertrag bekommen haben. Der Staatsvertrag wurde vor allem deswegen geschlossen, weil die viel wichtigere Frage nach der Zukunft Deutschlands zu dem Zeitpunkt schon entschieden war, nämlich eine Teilung in einen kommunistischen und einen westlichen Teil. Außerdem starb im Jahr 1953 der sowjetische Diktator Stalin, auf ihn folgte Chruschtschow. Zudem wurde ein neuer amerikanischer Präsident gewählt, der ehemalige General Eisenhower. Als Signal des guten Willens gegenüber dem amerikanischen Präsidenten stimmte Chruschtschow dem österreichischen Staatsvertrag zu. Der Staatsvertrag war sozusagen der günstigste Preis für alle in dieser kurzen Entspannungsphase im Kalten Krieg.

Ein anderer Mythos ist jener, dass am 26. Oktober der letzte sowjetische Soldat Österreich verlassen hat und deshalb an diesem Tag der Nationalfeiertag begangen wird. Der wahre Grund war die Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes im Parlament am 26.10.1955. Übrigens war der letzte Soldat, der Österreich verließ, kein sowjetischer, sondern ein britischer.

Warum gibt es Ihrer Meinung nach so viele „G’schichtln“ und Mythen rund um den Staatsvertrag?

Ganz offensichtlich wollten die ÖsterreicherInnen ihre eigene Bedeutung beim Abschluss des Staatsvertrages überhöhen und besonders hervorstreichen. Damit wird auch die Tatsache zugedeckt, dass sich die ÖsterreicherInnen nicht selbst vom Nationalsozialismus befreit haben.

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gedruckt am: Samstag, 16. März 2024