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Interview mit Daliah Hindler, Verein „Steine der Erinnerung“

Daliah Hindler hat Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien studiert. Sie ist seit 2008 Mitglied beim Verein „Steine der Erinnerung“, 2016 hat sie die Leitung des Vereins übernommen. Wir haben mit ihr im November 2019 über das Thema „Holocaust – Shoah“ gesprochen.“

Wie würden Sie in einfachen Worten erklären, was die „Steine der Erinnerung“ sind?

Steine der Erinnerung sind Gedenktafeln aus Messing, die im Gehsteig vor einem Haus eingelassen werden. Sie erinnern an die Frauen, Männer und Kinder, die einst in diesem Haus gewohnt haben, verfolgt und ermordet wurden. Es gibt auch Steine, die das jüdische Leben und die reiche jüdische Kultur in Erinnerung rufen. Für Angehörige sind die Steine oft symbolische Grabsteine, da viele der Menschen kein Grab haben.

Wie entstand das Projekt „Steine der Erinnerung“ und wie kann man sich am Projekt beteiligen?

Meine Mutter Elisabeth Ben David-Hindler hat unseren Verein im Jahr 2005 gegründet, weil ihr Onkel aus Israel, Ephraim Levanon, seiner Eltern gedenken wollte, die im 9. Bezirk gewohnt haben und ermordet wurden. Er wollte gerne eine Wandtafel am Haus anbringen, aber leider hat die Hauseigentümerin das nicht erlaubt. Deswegen wurden die ersten Steine im Boden verlegt. Meiner Mutter war es wichtig, auch anderer jüdischer Menschen zu gedenken, die in Wien gelebt haben. Viele Menschen haben mitgeholfen, um das möglich zu machen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich am Projekt „Steine der Erinnerung“ zu beteiligen. Wir bieten Patenschaften für Menschen an, die keine Angehörigen haben und die wir auch auf den Steinen verewigen. Dazu zählt man einmalig einen Beitrag und erhält dann eine Urkunde mit dem Namen.
Unser Verein reinigt die Steine regelmäßig, aber viele Menschen kümmern sich auch freiwillig darum. Das ist eine große Hilfe für uns.
Es gibt regelmäßig Termine, an welchen wir zu allen neuen Steinen in einem Bezirk gehen, und die Angehörigen erzählen über die Menschen, die auf den Steinen verewigt sind. Wir freuen uns über alle Menschen, die zu diesen Veranstaltungen kommen.

Wie viele „Steine der Erinnerung“ gibt es in Wien? Wie viele sollten Ihrer Meinung nach noch dazukommen? 

Es gibt in Wien derzeit an etwa 700 Adressen Steine, die an insgesamt rund 3.000 Menschen erinnern und von vier Vereinen gesetzt wurden. Jedes Jahr kommen neue dazu. Es gibt von unserer Seite keinen genauen Plan, wie viele Steine noch gesetzt werden sollen. Wir setzen Steine nur auf Anfrage von Angehörigen oder InitiatorInnen. Derzeit gibt es sehr viele Wünsche, die an uns herangetragen werden.

Wie empfinden Sie den Umgang mit dem Thema „Holocaust – Shoah“ in Österreich? 

Ich glaube, dass in Österreich viel zu lange zu diesem Thema geschwiegen wurde, und das hat bis heute Auswirkungen darauf, wie die Menschen in Österreich damit umgehen. Es gibt viele, die sich nicht mit diesem Thema beschäftigen wollen. Andererseits sind in den letzten Jahrzehnten sehr viele Initiativen gesetzt worden, um die Shoah zu thematisieren und auch ein neues Bewusstsein zu schaffen, dass es wichtig ist, sich mit diesem dunklen Kapitel der österreichischen Geschichte auseinanderzusetzen. Das stimmt mich positiv. Auch wir erkennen den Wunsch vieler Menschen, sich bei uns zu beteiligen. Das ist sehr wichtig für unsere Arbeit.

Wie kann man Menschen für das Thema „Holocaust – Shoah“ sensibilisieren?

Es ist sehr wichtig, dass an den Schulen über das Thema gesprochen wird. Ich glaube, es ist leichter, die Geschichte zu verstehen, wenn wir uns mit einzelnen Schicksalen beschäftigen und nicht mit großen Zahlen, die wir uns nicht vorstellen können. Unsere Steine ermöglichen es, sich vorzustellen, welche Menschen in den Häusern gelebt haben.

Was möchten Sie uns zum Abschluss mit auf den Weg geben?

Es gibt immer noch Menschen, die andere Gruppen aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung ablehnen. Es ist wichtig, dass wir uns auch heute gegen aufkommenden Antisemitismus (Judenfeindlichkeit) und andere Formen der Ausgrenzung auflehnen und auch im Alltag darauf achten, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen.

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gedruckt am: Freitag, 15. März 2024